(aus ME vom 10.Okt. 2003)
»Schön, sich auszupowern«

Liv Orth vom TSV Seckmauern ist amtierende deutsche Meisterin im Kickboxen

Lützelbach-Seckmauern. Seit diesem Jahr ist Liv Orth in der nationalen Kickbox-Szene keine Unbekannte mehr. Die für den TSV Seckmauern startende Sportlerin erhielt bei den Titelkämpfen in Siegen in ihrer Gewichtsklasse die deutsche Meisterschaft. Dabei betreibt die 19-jährige Lützelbacherin den hier zu Lande noch wenig populären Kampfsport erst seit vier Jahren.
»Livs Sieg war eine große Überraschung«, erklärt Trainer Erwin Münch, selbst DM-Dritter. Denn zuvor hatte die 19-Jährige bei Turnieren auf Bundes- und Landesebene noch nicht mit Podestplätzen auf sich aufmerksam gemacht. Doch an diesem Tag passte alles: Liv Orth kämpfte sich über drei K.o.-Runden ins Finale und besiegte dort ihre favorisierte Gegnerin souverän. Auf dem sechs mal sechs Meter großen Kampffeld konnte sie ihre 1,80 Meter Körpergröße voll ausspielen, ihre Gegnerin auf Distanz halten und ihre Reichweite wirkungsvoll einsetzen.

Blauer Gürtel
Liv Orth kämpft in der Semi- und Leichtkontaktvariante, bei der es weniger hart zur Sache geht als beim so genannten Vollkontakt-Kickboxen. Inzwischen hat sie es zum blauen Gürtel gebracht, ist also nur noch zwei Leistungsstufen vom 1. Dan, dem ersten Meistergrad, entfernt. Und das, obwohl die junge Lützelbacherin erst 1999 vom Leistungsschwimmen zum Kickboxen gewechselt war. »Es hat mir im Becken einfach keinen Spaß mehr gemacht«, begründet sie ihre damalige Suche nach einer neuen Herausforderung - die sie dann beim
TSV Seckmauern fand.
Als Mischung aus Boxen und asiatischen Kampfsportarten wie Tae Kwon Do und Karate wurde das Kickboxen vor rund 30 Jahren in den USA erfunden. In Deutschland führt die spektakuläre Sportart ein kaum beachtetes Schattendasein, erst recht in der »Provinz«. »Anfangs wurden wir im Verein misstrauisch beäugt«, erinnert sich Erwin Münch, der sein sportliches Handwerk in Mannheim und Hösbach gelernt und die Kickbox-Abteilung in Seckmauern ab 1998 aufgebaut hat.

Doch seit sich die ersten Erfolge eingestellt hätten, sei auch der Respekt im Ort gewachsen. Das zeige sich auch im Zulauf von Kindern und Jugendlichen, die unter den 30 Aktiven klar in der Überzahl seien - der jüngste TSV-Kickboxer zähle gerade mal sieben Lenze.

Spaß steht im Vordergrund
In der Steinbachtalhalle trainieren die Kampfsportler dreimal in der Woche zwei Stunden, um ihre Techniken zu verfeinern. Aber auch bei einer deutschen Meisterin steht nicht der Wettkampfgedanke, sondern der Spaß im Vordergrund.
»Es ist schön, sich nach einem stressigen Arbeitstag so richtig auszupowern«, erklärt die 19-Jährige, die sich derzeit am Amtsgericht Darmstadt zur Justizfachangestellten ausbilden lässt.
Am Anfang jeder Trainingseinheit steht ein intensives Lockerungs- und Aufwärmprogramm, bei dem auch Musikbeschallung nicht fehlen darf. Paarweise werden anschließend die bis zu 50 verschiedenen Hand- und Fußtechniken, Kombinationen und die unverzichtbare Verteidigung erprobt.
Spätestens wenn es zum Schluss des Trainings wie im Wettkampf zweimal zwei Minuten ernsthaft zur Sache geht, legen sich die Sportler die unverzichtbare Schutzausrüstung - Helm, Zahnschutz, Handschuhe, Fußschoner - an. »250 Euro sollte man für eine komplette Garnitur schon investieren«, rät Trainer Münch allen, die mit einem Einstieg ins Kickboxen liebäugeln. Das Verletzungsrisiko werde durch intensives Aufwärmen zwar verringert, aber bei anspruchsvollen Techniken wie »Fußfegern« oder »gesprungenen Kicks«, die zum Kopf des Gegners geführt werden, würden doch Knie und Hüfte stark beansprucht.

»Judo ist mir zu doof«
Bleibt die Frage, warum sich ein Mädchen wie Liv Orth ausgerechnet dem Kickboxen und nicht zum Beispiel dem weniger »harten« - und wesentlich bekannteren - Judo zugewandt hat. »Ich kann damit nichts anfangen«, lacht sie, »erst hinfallen lernen, um kämpfen zu können - das ist mir zu doof.«
Jürgen Schreiner